Paradies

Wenn Folke vom Paradies träumt…

Knockin’ on heaven’s door (…im Süden Indiens…)Wenn man in Nikkis Nest ankommt, ist das nicht zu vergleichen mit dem Ankommen in einem Hotel, oder in einem der üblichen Resorts. In Nikkis Nest wird man im wahrsten Sinn des Wortes Willkommen geheißen: der Manager, die Rezeptionistin, zwei der „boys“, ein Zimmermädchen kommen und begrüßen dich wie einen alten Bekannten – und, ich habe es beobachtet – diese Zeremonie wiederholt sich bei jedem ankommenden Gast – egal ob er das erste oder das zehnte Mal an die Pforte zum Paradies klopft…

Sie nehmen dich, führen dich auf die mit armstarken Bambusrohren gedeckte Terrasse, wo auch ein Schreibtisch, der ‚Rezeption’ zu spielen hat, steht, reichen dir – es sind jetzt rund drei Minuten nach dem Aussteigen aus dem hoteleigenen Van vergangen – einen frisch gepressten Mango-Papaya Saft, rücken dir einen hoch lehnigen Korbstuhl zurecht und fordern dich sanft, aber bestimmt auf, dich zu setzen und den ersten Blick zu genießen. Der erste Blick: ein unfassbar kitschiges Bild, so eines, von dem man glaubt, das es nur drittklassige Maler zustande bringen könnten… Unendlich scheinender Meeresstrand, der tiefblaue indische Ozean, Palmen, die sich in halsbrecherischer Schräglage über den weißen Sand beugen.

Während wunderschöne, junge Männer mit umwerfendem Lächeln deine Koffer verschwinden lassen, während der sehr sanfte, jedoch sehr angenehm spürbare Wind deinen Alltag über das Wasser fortzutragen beginnt, noch schönere junge Mädchen mit noch umwerfenderem Lächeln einfach nur an dir vorübergleiten (Gehen? Oh, nein, Gehen ist das nicht!) und dich grüßen, hast du schon, ohne es zu wissen, mit der „Kur“, also dem Entspannen, begonnen. Dass Seema (Rezeptionistin und rechte und linke Hand des Managers) dir irgendwann einen Schlüssel (den deiner Hütte) in die Hand drückt, dich einer dieser schönen Menschen auf irgendeinen Weg durch den Paradiesgarten zu deinem Zuhause für die nächsten 3 Wochen führt, nimmst du nur mehr am Rande wahr – würdest du auf die Uhr schauen (was du natürlich nicht tust) würdest du ungläubig feststellen, dass seit deiner Ankunft in Nikkis Nest gerade eben erst 25 Minuten vergangen sind – ja, das Leben im Himmel bedeutet, 25 Minuten wie 25 Stunden erscheinen zu lassen… (Hochgerechnet bedeutet dies, und so wird es dir auch vorkommen, dass deine drei Wochen hier eigentlich 3 Jahre waren!!!) Auf dem Weg zu unserer Bleibe begegneten wir zum ersten Mal Jayakumar. Wir hielten inne, als wir ihn sahen. Wir hielten inne, weil er uns suggerierte, wir seien nicht mehr auf diesem Planeten, sondern wahrhaftig im Paradies, im legendären Garten Eden gelandet und – keine Ahnung warum – aber in meinem Kopf ertönte plötzlich Bob Dylans „Knock, knock, knockin’ on heaven’s door…“. Jayakumar stand vor einem Baum, um dessen Stamm er Gebilde wie Vogelnester befestigte, um in ihnen Orchideen zu ziehen. Wie er das tat, ja, die ganze Erscheinung dieses vielleicht 50-jährigen Mannes, dem man ein hartes Leben ansah, aber von einer Aura des Glücks, der Anmut, Grazie und Demut umgeben war, löste in uns ein tiefes Gefühl von Freude aus. Verbunden mit einem seltsamen Gedanken: plötzlich war uns, als wären wir hier, um diesen Mann, den wir vor wenigen Augenblicken zum ersten Mal begegnet waren, zu treffen. Er sah uns ihn anstarren, lächelte, grüßte und wandte sich wieder – weltvergessen – seinen Orchideen zu. Wir bezogen unser Haus: Nikkis Nest. So heißt eines der beiden alten, Original Kerala Häuser aus dunklem, steinhartem Tropenholz. Das Nest thront ganz oben auf dem Hang, in den das Resort gebaut wurde. Man blickt hinunter auf den schmalen Streifen Gartens inmitten des Kokospalmenhanges, der sich kilometerlang an der ganzen Küste entlang zieht. Der Besitzer Bailey Jacob, ein wohlhabender Mann aus Kochin, der sein Investment seiner kleinen Tochter zu Ehren Nikki nannte, hat hier eine perfekte Verbindung zwischen natürlich Gewachsenem, riesigen Palmen und einer parkähnlichen Anlage geschaffen.

Unterhalb des „Nest“ reihen sich insgesamt 10 runde und eckige Steinhäuser, alle mit einem eigenen, kleinen Vorgärtchen versehen und den Abschluss bildet das zweite Kerala Haus, direkt am kleinen Torbogen, der zum Strand führt.
Um 12 Uhr holt man uns zum Essen – wir haben die Wahl zwischen einer kleinen Terrasse, rund um einen kleinen Garten mit wuchernden Pflanzen und direkt bei der Küche gelegen, oder der großen überdeckten Terrasse, die auf Pfeilen stehend aus dem Hang herausgebaut wurde und einem das Gefühl vermittelt, als würde man über allen Dingen schweben.
Wir bleiben in der Nähe der Küche. Der Düfte wegen. Und weil man sich hier am besten einen Überblick verschaffen kann, welche Köstlichkeiten zu den Tischen gebracht werden.
Wer indische Küche je genossen hat, wird wissen, welche Genüsse auf einen zukommen. Wer sie nicht kennt, dem sei als Einstiegsdroge (man wird süchtig danach!) die Künste von Rajashekaran, dem Koch von Nikkis Nest, empfohlen! Was dieser Raja, der sicher weder von Bocuse, noch von Jamie Oliver, noch von guilt millau je gehört hat, aus Gemüse und Kräutern, aus Obst und Milchprodukten zaubert, ist einfach Atem raubend (der Schärfe wegen manchmal auch durchaus wortwörtlich zu nehmen…) und vermag somit den kaum noch zu ertragenden Kult rund ums „Fressen“ in unserer dekadenten westlichen Welt auf das köstlichste zu relativieren.
Auf Wunsch – so werden wir erfahren und bald darauf erspüren – bereitet Raja auch eine „fish-plate“ zu (einen Tag davor anzumelden): dann sieht man Anoop, den Küchenjungen, früh morgens zum Strand laufen, wo gerade die Fischer in ihren Einbooten mit lauten Gesängen und archaischen Beschwörungsformeln die elendslangen Netze an Land ziehen. Und sieht ihn wenig später zurückeilen – mit noch zappelnden Fischen, deren nahes, jähes sich auszumalen, die Sehnsucht danach etwas (zugegeben eigentlich kaum wahrnehmbar) trübt…

Während unseres ersten Essens erspähen wir wieder Jayakumar, der es den lächelnden Geistern von Nikkis Nest, die sich persönlich um jeden einzelnen Gast kümmern, gleichtuend von Blüte zu Blüte, von Strauch zu Strauch und von Baum zu Baum wandelt, um sich dort in unhörbare Gespräche mit seinen Pflanzen zu vertiefen.
Ich rufe Anoop, nicke zu dem „Gärtner“ und frage ihn, wer das ist. „Jayakumar?“ fragt er, wie um sicher zu gehen, dass er mein Deuten richtig verstanden hat. „Der Pflanzenmann! Der ist ein bisschen verrückt!“ Und vertraulich näher gerückt, murmelt er: „Der spricht mit seinen Blüten und den Bäumen. Aber…“, um nur ja gleich jedes mögliche Problem auszuschließen, „er ist ganz harmlos. Sehr nett. Nur eben ein bisschen…“.

Gleichzeitig mit dem Nachtisch (eine Art Karottensouflée, himmlisch!), kommt Seema, um den Wochenplan für das Ayurveda festzulegen – es gibt sie also doch noch, die im Kreis laufenden kleinen und großen Zeiger, ich wähnte sie schon überwunden…
Drei Stunden später weiß ich, warum der Wochenplan notwendig ist: nach der ersten Behandlung (zwei Stunden lang, in denen sich alles Denken auf zwei sehr simple Kreise reduziert, wovon der eine nichts als eine wohlige Leere symbolisiert, der andere ein immer wiederkehrendes „Lass diese Massage nicht enden, lass diese Massage nicht enden…“ aufblinken lässt) will man die wie übergroße Pilze aus dem Kokospalmenwaldboden emporgewachsenen Hütten, in denen diese grün gewandeten Götter ihren Zauber betreiben, für sich annektieren, man will dort den Rest seines Lebens verbringen, will den Himmel für sich alleine, nur nicht mit den anderen teilen.
(Hinterhältige Gedanken, die sich – wie sich bei genauerer Beobachtung des Treibens rund um den Empfangtisch von Seema – augenscheinlich nicht nur bei uns eingeschlichen hatten, sondern jeden befielen, der in den Himmel gehoben, wieder auf die Erde zurückkommen musste).

Über den ersten Kontakt mit Ayurveda an dieser Stelle zu berichten, fällt schwer, weil das entstandene Gefühl nach tausend Seiten lieblicher, staunender Worte schreit – aber nur soviel sei erzählt: ich weiß nicht mehr wie ich von der Hütte, in der mich ein Engel (wunderschön dazu) namens Latha für zwei Stunden von dieser Erde weggezaubert hatte, in die Hängematte vor unserem Nest zu liegen kam. Ich weiß nicht, wie der frische Fruchtsaft, bereitet aus den Früchten, die meinem ayurvedischen Typus entsprechen (vata-pitta), in meine Hand und an meine Lippen kam. Ich schlief nicht und doch erwachte ich erst wieder, als die Sonne den Palmenblättern einen tieforangenen Schal umlegte. Meine Augen sandten wie immer Bilder meines Körpers an das Hirn, doch es war, als wäre er nicht mehr vorhanden. Ich erinnerte mich an mein Leben als Astronaut, als ich schwerelos durch das All schwebte. Aber ich kann beim Leben meiner Kinder schwören, dass ich nie Astronaut war. Das ist Ayurveda…
Nach dem Abendessen (jede der neun in wunderschönen Tontöpfen angerichteten Speisen entspricht einem der Ayurveda Typen – vata, pitta, kapha – bzw. einer Mischung daraus, man sollte seinem Typ entsprechend essen, wobei die Betonung auf „sollte“ liegt – verschämt verdeckte ich meinen Teller, auf dem sich Reste aller neun Götter-speisen versammelt hatten…) spazieren wir den Strand entlang und können es nicht fassen: wir sind seit 9 Stunden und 10 Minuten hier in Nikkis Nest in Chowara und es ist uns, als läge unser Alltag Lichtjahre hinter uns. Als wäre alle Last, wären alle Ketten moderner Zivilisation gesprengt. Einige Stunden hier haben bereits gereicht, Jayakumars Blick auf seine Orchideen, der uns so angezogen, so berührt hatte, als das Natürlichste zu empfinden.
Der erste Kuss, den wir uns am Strand geben, fühlt sich so an, wie der erste vor 25 Jahren – vielleicht ist Nikkis Nest eine geheime Teststation für die Überwindung der Zeit…

Dieser Gedanke wird bestätigt, als wir nach drei Wochen (oder waren es drei Jahre?) zusehen müssen, wie die schönen jungen Menschen unsere Koffer vor Seemas Tisch stellen, der immer noch Rezeption spielt. Jeder kommt sich zu verabschieden. Jeder: Rajashekaran, der Koch und Anoop, sein Gehilfe. Die Zimmermädchen Sathy und Sreekum und Pavi, der Manager. Die Masseure. Die vielen restlichen guten Geister von Nikkis Nest. Nur Jayakumar steht abseits, bei seinen Orchideen. Schaut zu uns herüber und wir verstehen. Wir gehen zu ihm, um uns zu verabschieden. Wir sagen „Danke“ auf Hindi, für die täglichen gemeinsamen Blicke auf seine Blumen. Er sagt „Danke“ mit seinen Augen, dass wir seine Arbeit wahrgenommen hatten. In gebrochenem Englisch fragt er uns, wann wir wiederkommen. Hätte es einen Sinn ihm zu antworten, in einem Jahr, an einem Ort, wo Zeit ihre Berechtigung verloren zu haben scheint?
„Wir kommen wieder“, antworte ich ihm, „wenn der Stamm dieser Blume doppelt so lang ist wie jetzt.“ Da setzt Jayakumar sein unvergleichliches Lachen auf und umarmt uns. Übrigens, als wir nach etwas mehr als 9 Monaten wieder ins „Nest“ zurückkommen, empfängt uns Jayakumar bei „unserer“ Blume – sie war ungefähr zehnmal so groß, wie bei unserer Abreise…
In Nikkis Nest hat Zeit eben keine Bedeutung!

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